Volksabstimmung vom 9. Juni 2013, Nein zur Volkswahl des Bundesrates: Statement von Bundesrätin Simonetta Sommaruga

Bern, 26.03.2013 - Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren

1. Eine scheinbar attraktive Forderung

Ich habe übrigens gestern die Neuenburger Regierung zu einem Arbeitstreffen besucht. In Neuenburg wird im April die Regierung neu gewählt, und so sind denn die Strassen im Kanton gesäumt von Wahlplakaten - ich stellte mir dann sozusagen aus aktuellem Anlass vor, wie das in der ganzen Schweiz aussehen würde, vor eine Volkswahl des Bundesrats. Ob dann überall Plakate von amtierenden und kandidierenden Bundesrätinnen hängen würden, von Genf bis Rorschach, von Schaffhausen bis Chiasso. - Ich habe mich dann mit der Neuenburger Regierung auch zu dieser Frage ausgetauscht, denn es ist ja so:

Die Befürworter der Initiative haben ein Argument, das zumindest vordergründig sehr stark ist: In den Kantonen werden die Regierungen bereits von der Bevölkerung gewählt - und man kann nicht sagen, dass die Kantone deshalb schlecht regiert würden.

Der Bundesrat ist dennoch der Meinung, dass sich eine Wahl in die Regierung eines Kantons mit durchschnittlich leicht über 300'000 Einwohnern nur begrenzt vergleichen lässt mit der Wahl in die Regierung eines viersprachigen Staates mit rund acht Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern.

Lassen Sie mich nachfolgend darlegen, weshalb der Bundesrat der Meinung ist, dass diese Initiative abzulehnen ist.

Fast schon 600 Mal hat die Schweizer Bevölkerung seit der Gründung unseres Staates an der Urne die Politik unseres Landes mitbestimmt - gut 200 Mal alleine in den letzten beiden Jahrzehnten. Dazu kommen unzählige Abstimmungen in den Kantonen und Gemeinden. Wir alle sind stolz auf dieses Mitbestimmungsrecht - auch wenn die Bevölkerung immer wieder Entscheide fällt, mit denen sie sich über Empfehlungen der Behörden hinwegsetzt.

Die Volksinitiative "Volkswahl des Bundesrates" möchte dem Volk nun ein zusätzliches politisches Recht geben, die Wahl des Bundesrates. Das ist auf den ersten Blick eine attraktive Forderung. Mehr Mitsprache, dagegen kann man ja nur schwer argumentieren. Noch schwieriger wird die Aufgabe natürlich für den Bundesrat. Schliesslich ist er als Institution von der Initiative ja direkt betroffen, und man könnte ihm vorwerfen, dass er aus Eigeninteresse argumentiere. Das ist der Grund dafür, dass sich der Bundesrat in diesem Abstimmungskampf wohl noch etwas mehr zurückhalten wird als sonst.

Wenn ich heute hier trotzdem auftrete, hat das vor allem einen Grund: Der Bundesrat befürchtet, dass gerade mit einer Volkswahl das Eigeninteresse der einzelnen Mitglieder der Regierung mehr Gewicht erhalten würde. Das würde sich aber schlecht mit unserem Regierungssystem vertragen, das durch Konkordanz und Kollegialität geprägt ist - und geprägt sein muss, damit es funktioniert.

Lassen Sie mich eines in aller Deutlichkeit sagen: Der Bundesrat hat keine Angst vor dem Volk. Er respektiert die Entscheide der Bevölkerung. Er traut den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern zu, Bundesrätinnen und Bundesräte zu wählen - genauso wie er ihnen zutraut, immer wieder über komplexe und schwierige Sachfragen abzustimmen.

2. Imagepflege statt Sachpolitik

Wir alle kennen aber den Slogan: Nach dem Wahlkampf ist vor dem Wahlkampf. In repräsentativen Demokratien wird damit der so genannte Dauerwahlkampf beschrieben. Und seien wir ehrlich: Werden Entscheide von Regierenden wie etwa dem amtierenden französischen Präsidenten nicht schon kurz nach der Wahl im Hinblick auf die Wiederwahlchancen beurteilt? Auch öffentlich? Das ist bei uns in der Schweiz nicht der Fall, und ich bin der Meinung, dass das gut so ist. Die Volkswahl des Bundesrates würde das politische Leben in der Schweiz also zweifellos verändern. Die Mitglieder des Bundesrats müssten sich neben ihrer eigentlichen Regierungstätigkeit ständig darum bemühen, ihre Wiederwahl zu sichern. Sie müssten Zeit und Energie in landesweite Imagekampagnen und Wahlkampfauftritte stecken - in 26 Kantonen mit vier Sprachen und unterschiedlichen Kulturen. Das wären ganz andere Dimensionen im Vergleich zu kantonalen Kampagnen. Und diese Zeit und Energie würde zwangsläufig auf Kosten der eigentlichen Regierungstätigkeit gehen.

Dieses Ringen um Popularität würde auch die Zusammenarbeit im Regierungskollegium beeinträchtigen. Natürlich ist die Zusammenarbeit im Bundesrat auch heute nicht immer harmonisch; das soll sie auch gar nicht sein. Wir wurden aufgrund von unterschiedlichen politischen Positionen gewählt, und wir sollen diese auch vertreten. Selbstverständlich spielen heute im Bundesrat immer wieder auch parteipolitische Überlegungen eine Rolle - das ist auch richtig so, das ist so gewollt -, aber sie stehen nicht im Vordergrund, und sie sind nicht entscheidend für die Entscheide, die der BR fällt.

Das ermöglicht es uns immer wieder, nach hartem Ringen zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Und wichtiger noch: Das macht es einfacher, gelegentlich unpopuläre Entscheide zu fällen, die aber im Interesse von nachhaltigen Lösungen für das ganze Land sind.

Mit der Volkswahl würde also der Druck auf die Mitglieder des Bundesrats zunehmen, sich zu profilieren und stärker als bisher auf die eigene Beliebtheit zu schielen. Er könnte dazu führen, dass die Mitglieder des Bundesrates ihre Vorlagen unter Umständen nicht mehr in erster Linie danach beurteilen, ob sie für das Land gut sind oder nicht. Sondern sie würden dann wohl auch darauf achten, ob das Geschäft jetzt die Chancen auf Wiederwahl erhöht oder eben mindert.
Das heisst auch: Noch mehr als heute würden inhaltliche Differenzen zwischen den Departementen zu Rivalitäten zwischen den Personen hochstilisiert.

Übrigens: Auch der finanzielle Aufwand für einen nationalen Wahlkampf ist nicht zu unterschätzen. Stärker als heute wären Kandidatinnen und Kandidaten von den nationalen Parteien abhängig. Die Parteiendemokratie - in Italien spricht man von partitocrazia - würde gestärkt. Eine stärkere Position würden auch reiche Einzelpersonen bekommen oder Unternehmen und Lobbyorganisationen, die fähig sind, eine landesweite Wahlkampagne zu führen und zu finanzieren.

3. Ein geschwächtes Parlament ist ein schlechteres Parlament

Ich komme zu einem weiteren Mangel der Volkswahl: Das heutige Gleichgewicht zwischen Parlament und Bundesrat würde verschoben. Heute wählt ja das Parlament die Mitglieder des Bundesrates. Bei einer Annahme der Initiative würde das Parlament diese Kompetenz verlieren. Dadurch würde es auch bei der Kontrolle der Regierungstätigkeit des Bundesrats geschwächt. Diese Kontrolle ist aber wichtig: Das Gewaltengefüge mit einem starken Parlament und einem starken Bundesrat ist für die Qualität der Politik von entscheidender Bedeutung. Eine Volkswahl des Bundesrates würde dieses Gefüge beeinträchtigen.

Nehmen Sie einen konkreten Fall: Die Geschäftsprüfungskommission liefert einen kritischen Bericht über ein Mitglied der Regierung ab. Bei einer Volkswahl des Bundesrats wäre nicht mehr klar, wem dieses Mitglied der Regierung nun Rechenschaft ablegen muss: dem Parlament oder seinem Wahlgremium, der Bevölkerung.

Ständeratspräsident Filippo Lombardi wird Ihnen anschliessend noch ausführlich darlegen, aus welchen Gründen sich das Parlament gegen die Initiative ausspricht.

4. Eingespielte Balance zwischen den Minderheiten bewahren

Der Bundesrat sieht eine weitere Gefahr darin, dass eine Volkswahl auch die Balance zwischen den verschiedenen Minderheiten verändern würde, aus denen sich unser Land zusammensetzt. Als viersprachiges und multikulturelles Land ist die Schweiz ein Erfolgsmodell. Sie ist aber in Bezug auf den inneren Zusammenhalt besonders gefordert. Das gilt natürlich auch für die Bundesratswahlen:

Die Bundesversammlung hat seit der Gründung des Bundesstaates dafür gesorgt, dass Minderheiten angemessen im Bundesrat vertreten sind. Dass insbesondere die französisch- und die italienischsprachigen Personen in diesem Land immer wieder auch ihr Bundesratsmitglied hatten - insgesamt etwas mehr, als ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Mit einer Volkswahl würden die grossen, bevölkerungsreichen Kantone an Gewicht gewinnen. Die heutige verfassungsrechtliche Pflicht, die Landesgegenden in der Regierung angemessen zu berücksichtigen, würde mit der Initiative entfallen.

Die Wahl des Bundesrates durch das Volk könnte also diese eingespielte Rücksichtnahme auf Minderheiten gefährden. Das haben auch die Initiantinnen und Initianten erkannt. Sie vertrauen in diesem Punkt deshalb nicht auf das Volk und schlagen eine Quote vor. Diese Quote soll den französisch- und den italienischsprachigen Gebieten zusammen zwei Bundesratssitze garantieren. Die Rätoromanen wurden von den Initianten offenbar schlichtweg vergessen. So viel zum Thema Minderheitenschutz.

Um die Quote für die französisch- und die italienischsprachigen Gebiete in jedem Fall sicherzustellen, enthält der Initiativtext ein besonderes Berechnungsverfahren. Dieses verwendet das sogenannte geometrische Mittel. Diese mathematische Formel würde den Stimmen aus den französisch- und italienischsprachigen Gebieten ein höheres Gewicht geben als jenen aus der Deutschschweiz und den rätoromanischen Gebieten. Die französischsprachigen Gebiete und die italienischsprachigen Gebiete würden sich also um die beiden Sitze konkurrenzieren, die ihnen vorbehalten sind. Dabei würde die italienischsprachige Schweiz voraussichtlich jeweils den Kürzeren ziehen, weil die Romandie viermal mehr Stimmberechtigte zählt.

Erwähnen muss ich hier auch noch, dass der Quotenschutz der Initiative sich ausdrücklich auf den Wohnsitz der Kandidatinnen und Kandidaten bezieht, und nicht auf deren Herkunft. So könnten zum Beispiel auch Kandidaten das Rennen machen, die aus der Deutschschweiz stammen, aber sich im französischen oder italienischen Sprachgebiet politisch engagieren.

5. Stress für unseren Föderalismus

Mit der Initiative käme unser Föderalismus also von zwei Seiten unter Druck:

Zum einen durch die Quotenregelung, die faktisch zu einer Aufteilung der Schweiz in einen deutschen und rätoromanischen Teil auf der einen und den französischen und italienischen Teil auf der anderen Seite führt. Dabei würden namentlich auch die gemischtsprachigen Kantone und Gebiete auseinander dividiert.

Zum andern würde der Föderalismus, wie erwähnt, aber auch deshalb unter Druck kommen, weil die landesweite Wahl des Bundesrates die Rolle der Landesparteien auf Kosten der Kantonalparteien stärken würde. Zentralisierende Kräfte bei den Parteien und separierende Kräfte bei den Sprachen - das wäre buchstäblich Stress für unseren Föderalismus.

Zum Schluss noch dies: Die Initianten betonen ja immer wieder, sie wollten eine Lücke schliessen; bei der Bundesratswahl habe das Volk heute nämlich nichts zu sagen. Das ist falsch.

Die Bevölkerung stimmt nämlich nicht nur regelmässig über Sachgeschäfte ab, sie wählt ja auch das Parlament - und diese Vertreterinnen und Vertreter des Volkes wählen dann die Mitglieder des Bundesrats. Dieses Verfahren gilt seit der Gründung des Bundesstaates, also seit über 160 Jahren. Alle Bestrebungen, daran etwas zu ändern und die Volkswahl einzuführen, wurden bisher abgelehnt. Es gab zwei Volksabstimmungen im letzten Jahrhundert - nämlich 1900 und 1942; die Vorlagen wurden abgelehnt. Es gab verschiedenste Vorstösse, parlamentarische Initiativen und Petitionen; keiner dieser Vorschläge konnte eine Mehrheit überzeugen.

Das heutige Wahlverfahren ist also mehrfach in demokratischen Entscheidungen bestätigt worden. Es hat über Jahrzehnte zur politischen Stabilität in unserem Land beigetragen. Die Nachteile überwiegen - deshalb ein Nein von Bundesrat und Parlament zu dieser Initiative.

Sehr geehrte Damen und Herren, die Initiative wäre nicht der Untergang der Eidgenossenschaft.

Der Bundesrat ist sich auch bewusst, dass es politisch immer attraktiv ist, einen Ausbau der Volksrechte zu fordern. Es gibt deshalb auch immer wieder solche Initiativen, gerade letztes Jahr haben wir z.B. darüber abgestimmt, ob Staatsverträge grundsätzlich vor die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger müssen oder nicht. Diese Initiative wurde mit 75 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt.

Wir Mitglieder der Landesregierung verstehen uns als Verfechterinnen und Verfechter der direkten Demokratie. Diese zeichnet sich aber nicht einfach durch maximale Stärkung der Volksrechte aus, sondern durch das richtige Gleichgewicht zwischen Bevölkerung, Parlament und Regierung.

Aus all diesen Gründen empfiehlt der Bundesrat mit dem Parlament die Initiative zur Volkswahl des Bundesrates zur Ablehnung.

Das Wort hat jetzt Ständeratspräsident Filippo Lombardi.


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Kommunikationsdienst EJPD, T +41 58 462 18 18



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Letzte Änderung 19.01.2023

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